Es ist Donnerstagmorgen, 05:10 Uhr in der Früh. Ich stehe auf der Waage. Um die Anzeige sehen zu können, muss ich mich ein ganzes Stück mit dem Oberkörper nach vorne beugen - mein fetter, schwabbeliger Bauch ist im Weg. Auf der Digitalanzeige blinken die Ziffern 119,8. Die Zahl brennt sich in meinem Kopf ein. Ich wusste schon, warum ich mich so lange davor gedrückt habe, mein Gewicht wieder einmal zu kontrollieren. Schnell steige ich von der Waage. Ich möchte das nicht wahr haben, aber davonlaufen geht leider nicht. Spätestens der Blick in den nächsten Spiegel führt mir mein Übergewicht wieder vor Augen. Manchmal, wenn ich mich im Spiegel anschaue, kann ich es selbst nicht glauben, dass ich das bin. In meinem Kopf sehe ich mich immer noch so schlank wie vor vielen Jahren und nicht so, wie ich jetzt tatsächlich bin: fett und unansehnlich. Verdrängen nennt man das wohl! Schon in der Schwangerschaft habe ich sehr viel zugenommen. In den letzten Jahren habe ich mehrmals versucht abzunehmen. Jedes Mal mit dem gleichen Erfolg: kaum war die Diät beendet nahm ich noch mehr zu, als ich an Gewicht verloren hatte. Einmal waren es sogar 17 Kilo, die ich geschafft hatte. Doch lange halten konnte ich das neue Gewicht nicht. Nach etwas mehr als einem halben Jahr wog ich etliche Kilos mehr, als noch vor dieser Diät. Und nach jeder weiteren Diät, brachte ich noch mehr Gewicht auf die Waage als zuvor. Ich nahm zu und zu und zu . . . ein Teufelskreislauf.
Ich saß immer gerne am Boden, nur in letzter Zeit nicht mehr. Nicht, weil ich das nicht mehr gerne machen würde, sondern weil das Aufstehen danach eine echte Herausforderung für mich geworden ist. Manchmal dauert es ein paar Minuten, bis ich endlich wieder auf zwei Beinen stehe und mir ist dann nicht selten schwarz vor Augen. Beim Stiegensteigen komme ich nicht weit, ohne dass mir die Zunge heraus hängt und auch sonst fühlte ich mich krank und völlig erschöpft. Mir war klar, dass ich so nicht weiter machen konnte. Aber was sollte ich tun? In einem Zeitungsartikel einer renommierten österreichischen Tageszeitung las ich vor ein paar Wochen, dass man angeblich bei so starkem Übergewicht, wie ich es hatte, nicht mehr als 20 bis 25 Kilo aus eigener Kraft abnehmen könne - dann sei Schluss. Irgendetwas am Stoffwechsel sollte sich bei stark übergewichtigen Menschen so weit verändert haben, dass es unmöglich wäre, mehr abzunehmen – so zumindest die Meinung eines österreichischen Wissenschaftlers - einem anerkannten Science Buster, der sich selbst einer Magen-Bypass-OP unterzogen hat, um wesentlich an Gewicht zu verlieren. Das war doch der beste Beweis, dass es gar keinen Sinn hatte abzunehmen. Denn mehr als 25 Kilo würden es eh nicht werden und das war für mich einfach zu wenig – liebe Grüße an dieser Stelle an Sie, Herr Mag. Werner Gruber. Vor einer Operation hatte ich viel zu viel Angst. Das war vielleicht meine einzige Chance Gewicht zu verlieren, aber leider keine Option für mich . . .
Ich bin spät dran, steige in den Lift. Drin steht irgendein Mann von oben in einem blau-roten Arbeitsgewand. Ich realisiere ihn nicht weiter. Ich murmle gedankenversunken „Morgen.“. Er erwidert mein „Morgen“, aber ich höre es kaum. Ich drücke auf den Knopf vom Lift auf „K“. Ich muss in die Garage zu meinem Auto. Eine mühsame Fahrt in die Arbeit steht mir bevor. Draußen schüttet es und es weht starker Westwind. Unangenehm zum Fahren. Ich bin ohnehin müde, habe diese Nacht wieder einmal schlecht geschlafen. Das einzige, was mich aufmuntert ist, dass heute schon Donnerstag ist. Ich freue mich auf das kommende Wochenende mit meinem Sohn. Ich habe mir eine Überraschung für ihn überlegt und stelle mir seine großen Augen vor, wenn er sich darüber freut. Unwillkürlich erscheint ein Lächeln auf meinem Gesicht, während ich auf den Boden vom Lift blicke und vor mich hin träume.
Ein „Na dann, geh´ mas wieder an“ reißt mich aus meinen Gedanken. Ich blicke zu dem Mann neben mir hoch und bemerke ihn jetzt erst so richtig. Ich antworte: „Ja, aber heute ist eh schon Donnerstag.“. Er: „Gott sei Dank!“. `Ja, Gott sei Dank! Dem kann ich nur zustimmen`, denke ich. Dann ist der Lift auch schon im Erdgeschoß angekommen. Die Tür öffnet sich mit einem lauten Ruck – viel zu laut für meinen Geschmack um diese Uhrzeit – und der Nachbar von steigt mit den Worten: „Einen schönen Tag! Auf Wiedersehen!“ aus. Ich erwidere knapp: „Ebenfalls!“ und „Tschüss!“ und drücke auf den untersten Knopf auf dem Bedienelement des Aufzugs, damit sich die Tür schneller wieder schließt. Mir fällt dabei gar nicht auf, dass ich „Tschüss“ und nicht „Auf Wiedersehen“ gesagt habe. Was ich jetzt noch nicht weiß: Heute ist der Tag, an dem sich mein ganzes Leben verändern wird. Danach vergehen sicher zwei oder drei Wochen bis ich den Mann wieder sehe – zufällig . . . im Lift . . .