Reise in die Vergangenheit
Ich stehe am Rand eines Weingartens und beobachte Manuel dabei, wie er die moderne High-Tech-Weinlesemaschine und den riesigen Traktor völlig fasziniert mit seinen kleinen, aufgeweckten Augen verfolgt. Sein Mund steht ein kleines Stückchen weit offen und er bestaunt das Gefährt, das da die Trauben mit einem ohrenbetäubenden Geräusch von den Weinstöcken reißt und in den großen weißen Behältern auf beiden Seiten sammelt. `Puh, ist das laut“, denke ich und gehe automatisch ein paar Schritte zurück. Als uns der Bauer entdeckt hält er kurz an und die Maschine und der Motor werden leiser. Er öffnet die Fahrertür und nimmt seine Ohrenschützer ab. Er schaut Manuel mit einem Lächeln an und ruft ihm laut zu: „Mogst mitfoan?“. Manuel schaut fragend zu mir und ich nicke ihm aufmunternd zu. Im nächsten Moment klettert er mit meinem iPhone in der Hand zu dem Mann auf den Traktor und dann fahren sie auch schon los. Manuel filmt alles mit meinem Handy und schaut der Maschine nun aus nächster Nähe dabei zu, wie sie immer mehr Trauben erntet. Es dauert keine drei Minuten bis wieder eine ganze Reihe fertig gelesen ist. Manuel hält alles filmisch für seine Freunde und Klassenkameraden mit dem Handy fest. So macht man das heute!
Während ich den Traktor wieder langsam zwischen den Reben verschwinden sehe, werden plötzlich - von einem Moment auf den anderen - Erinnerungen an meine eigene Kindheit in mir wach:
Es ist noch ganz früh am Morgen. Feine Nebenschwaden hängen über dem Boden und bringen erste Kunde vom nahenden Herbst. Die Schreie der Stare liegen in der Luft und die Schwalben sammeln sich schon vereinzelt auf den Drähten der Stromleitungen. Langsam geht die Sonne hinter den Hügeln der Weingärten auf und taucht den Himmel in ein orangerotes Licht. Der zarte Nebelschleier in der Luft verschwindet mit der steigenden Sonne und der Sommer zeigt noch einmal, dass er den Kampf gegen den Herbst noch nicht verloren hat. Schnell wird es wärmer, doch die Sonnenstrahlen brennen nicht mehr so heiß auf der Haut, wie noch vor ein paar Wochen.
Auf dem Hof tuckert bereits der Traktor und ich höre meine Großmutter rufen: „Nadine, steh auf und zieh dich schnell an. Gleich geht es los! Komm mein Kind, heute ist ein ganz besondere Tag!“. Aufgeregt springe ich aus dem Bett, ziehe mein Nachthemd über meinen Kopf und schlüpfe in mein Dirndl, das ich mir extra für diesen Tag heute bereit gelegt habe. Die Morgenluft ist noch kühl und ich ziehe eine Weste über. Ich stürme hinaus in die Küche und meine Großmutter hält mir ein Brot mit Butter und selbstgemachter, verführerisch duftender, leuchtend oranger Marillenmarmelade entgegen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange, schnappe das Brot und stürme durch die alte knarrende Holztür auf den Hof hinaus – direkt zum alten blauen Traktor, der schon mit dem großen Anhänger hier steht und lustig vor sich hin tuckert. Der Lack ist schon an vielen Stellen abgesprungen und jede Delle erzählt eine andere Geschichte aus den unzähligen Jahren, die er schon bei meinen Großeltern fast täglich im Einsatz ist. Ich bleibe neben dem Traktor stehen, der mich irgendwie an ein Heupferd erinnert und beiße in mein Brot. Ein wundervoller Geschmack von duftenden reifen Marillen und dem Anis aus dem Sauerteig breitet sich in meinen kleinen Mund aus. Sie treffen auf meiner Zunge aufeinander. Ich halte kurz inne und schließe meine Augen. Ich kann den Marillenbaum in meinen Gedanken wieder vor mir sehen, unter dem ich vor ein paar Monaten herumgetanzt bin und meine Finger auf Zehenspitzen den reifen Früchten entgegen gestreckt habe, die meine Oma dann gemeinsam mit meiner Mama und mir zu dieser herrlichen Marillenmarmelade eingekocht hat.
Als ich meine Augen wieder öffne bemerke ich zwei freche Enten neben mir, die ihre Hälse zu meiner Hand hoch recken, um etwas von dem herrlichen Brot zu erhaschen. Nichts da, das gebe ich nicht her! Schnell strecke ich meinen kleinen Arm ganz hoch und laufe zu meinem Großvater hinüber, der schon neben dem Gummiwagen steht und große Holzbutten hinein hebt. Ich schaue ihm neugierig zu und verschlinge dabei mein Marmeladebrot gierig Bissen für Bissen. Um meinen Mund herum klebt eine Mischung aus Butter und herrlicher Marillenmarmelade. Mein Opa lächelt mich an, als er mich entdeckt, wuschelt über meine Haare und sagt zu mir: „Guten Morgen meine kleine Prinzessin!“. Er kneift mich liebevoll in die Wange und wischt mir etwas Marmelade und Butter von meinem Mund. Er leckt sich die rauen Finger davon ab und sagt dann zu mir: „Mhhhh ist das gut! Bekomme ich auch was von deinem himmlischen Brot?!“. Ich muss Lachen und stopfe das letzte Stück hastig in meinen Mund, damit ich es ja nicht hergeben muss. Ich habe Mühe das große Stück zu kauen und meine Backen füllen sich mit dem köstlichen Marmeladebrot wie die eines Hamsters. Opa lächelt bei diesem Anblick, nimmt mich an den Hüften, wirbelt mich durch die Luft und hebt mich dann auf den Traktor hoch. Ich quietsche vor Vergnügen und spüre das Adrenalin in meinen Körper schießen. Durch jede Muskelfaser strömt in diesem Moment ein wohlig warmes Gefühl.
Ich drehe mich um und sehe meine Oma gemeinsam mit meiner Mama, meinem Papa, meinem Onkel und meiner Tante aus dem alten Bauernhaus kommen. Sie tragen große Körbe, die mit weißen bestickten Tüchern bedeckt sind zum Traktor. Nur mit Mühe können sie die schweren Körbe zu den anderen Sachen auf den Anhänger hoch heben, bevor sie selbst hinauf klettern und sich auf die Ladefläche setzen, auf der auch schon zwei Schubkarren und eine Milchkanne mit alten Scheren drin liegen.
Dann fährt der Traktor mit einem heftigen Ruck los - aus dem Hof über die Pflastersteine des Schintergrabens, wie die steile Straße auf den Berg zum Haus meiner Großeltern hinauf von den Dorfbewohnern genannt wird, vorbei an anderen entzückenden kleinen Bauernhäusern hin zum schmalen Feldweg, der zu den Äckern führt. Der Traktor ruckelt und schaukelt vorbei an Stoppelfeldern, auf denen vor ein paar Wochen noch Roggen und Hafer gestanden sind zu den Weingärten unserer Familie. Plötzlich läuft ein Fasan vor uns über die staubigen Rillen des Weges. Ich rufe laut „Da!“ und zeige aufgeregt auf das bunte Federvieh, das schnell das Weite sucht. Mein Opa schaut zu mir herüber und nickt mir lächelnd zu. Er weiß, wie sehr ich die Tiere und die Felder hier liebe. Ich schaue ihn an und schenke ihm mein strahlendstes Lächeln. Ich betrachte sein Gesicht von der Seite. Seine faltige, ledrige sonnengebräunte Haut, sein Hut, sein stoppeliger Bart und seine wilden Augenbrauen sind mir so vertraut. Die Sonne steht jetzt schon viel höher am Himmel und ihre Strahlen zaubern einen milchigen Schein auf das Firmament. Obwohl die lauten Geräusche vom Traktor in der Luft liegen, kann ich hinter mir meine Oma und meinen Eltern mit meinem Onkel und meiner Tante scherzen und lachen hören. Eine fröhliche Stimmung liegt in der Luft. Alle sind guter Dinge und Vorfreude auf den heutigen Tag. Das Wetter könnte nicht besser sein – es ist ein perfekter Tag für die Weinlese.
Es dauert nicht lange und wir sind beim Weingarten angekommen. Als sich der Traktor nähert fliegen ein paar Stare von den Reben hoch und lassen sich im nächsten Weingarten mit ihrem typischen Gezwitscher nieder. „Jetzt ist Schluss mit Naschen“, sagt mein Opa in ihre Richtung und fährt in die Wiese vor dem Weingarten. Dann bleibt er stehen und steigt ab.
Ich bin aufgeregt und wetze auf meinem Sitz hin und her. Ich kann es nicht erwarten, bis er mich vom Traktor hebt und ich zu den Weinreben laufen kann. ´Wie die Weintrauben wohl heuer schmecken?`, frage ich mich neugierig, als mich seine starken Arme schon herunter heben. Inzwischen sind auch schon mein Papa und mein Onkel vom Gummiwagen gesprungen und helfen den anderen herunter, bevor sie die Schubkarren und die Buttenkraxen abladen.
Oma verteilt schon die Scheren an alle Anwesenden und in der Ferne ist noch ein Traktor zu hören, der sich langsam nähert. Die Nachbarn kommen, um zu helfen und wenig später treffen noch weitere bekannte Gesichter aus dem Dorf auf ihren Fahrrädern bei uns ein. Im Nu sind alle mit Scheren, Eimern und Holzbutten ausgestattet und die ersten Stängel der Trauben werden schon von den Reben geschnitten. Ich suche mir eine ganz besonders schöne Traube aus und nasche die süßen Perlen – mmmmmmh sind die lecker! Ein paar andere Kinder aus dem Dorf sind auch mitgekommen und es dauert nicht lange und wir vertreiben uns die Zeit mit fangen und verstecken spielen. Wir tollen ausgelassen zwischen den Helfern herum und schneiden selbst die eine und andere Traube ab. Ich lege meine ganz sachte und behutsam in meine Milchkanne. Kaum ist die Kanne voll laufe ich schon zum Anhänger und versuche sie zu den anderen Trauben zu leeren. Ich bin noch etwas zu klein und komme nicht ganz hoch, doch da ist auch schon eine helfende Hand zur Stelle und ich kann schon wieder zurück in den Weingarten laufen, um neue Weintrauben zu ernten. Auf dem Weg dorthin entdecke ich einen Feldhasen ein paar Reihen weiter. Ich stelle meine Milchkann ganz langsam und leise neben mir auf die Erde und schleiche mich an. Der Hase duckt sich zwischen blühenden Kamillen und Kornblumen und macht sich ganz klein. Erst als ich ihm zu nahe komme springt er mit einem Satz hoch und läuft hakenschlagend davon. Ich bleibe stehen und schaue ihm nach. Bald ist er verschwunden und zurück bleiben nur kleine Staubwölkchen über dem Boden, die er mit seinen kräftigen Hinterpfoten beim Weghoppeln in der trockenen Erde aufgewirbelt hat.
Die Sonne steht jetzt schon ganz hoch am Himmel und ich brauche meine Weste nicht mehr. Ich ziehe sie aus. Die Sonne wärmt meine Haut mit ihren noch kräftigen Strahlen und der Duft von Heimat liegt überall in der Luft. Ich atme tief ein und wieder aus und inhaliere diesen Geruch, der sich unvergesslich in mein Gehirn einbrennt. In der Zwischenzeit ist es Mittag geworden und ich sehe die Frauen im Schatten unter dem alten Nussbaum mit den riesen großen Bemanüssen Decken auf den Boden ausbreiten. Dann werden die Tücher von den Körben genommen und ich weiß: jetzt gibt es Brotzeit! Erst jetzt bemerke ich, dass ich Hunger habe und laufe rasch hinüber, damit ich mir den besten Platz sichern kann: den neben meiner Oma! Denn sie schaut immer darauf, dass ich die besten Stücke bekomme und es mir an nichts fehlt.
Auf Holzbrettern türmen sich selbstgemachte Würstel, Käse, Speck, hartgekochte Eier, Paradeiser, Grammeln, Paprika, selbsteingelegte Senf- und Salzgurken, Pfefferoni und zwei große Laibe von dem herrlichen selbstgebackenen Brot meiner Oma. Opa nimmt einen Brotlaib in die Hand, spricht ein kurzes Dankesgebet und macht mit dem Messer ein Kreuz darauf. Dann schneidet er dicke Scheiben davon ab und jede bekommt eine. Alle greifen zu und im Nu ist fast alles aufgegessen. Jetzt greift meine Oma noch nach einem kleinen Korb, auf dem noch ein weißes Tuch liegt und holt einen Zwetschgenfleck mit Streusel heraus. Ich schnappe mir das erste und größte Stück. Der süßsäuerliche Geschmack der Zwetschgen, das Zimt und der Puderzucker in meinem Mund sind einfach himmlisch. Ich lasse mich auf die Decke nach hinten fallen und schaue in die große Baumkrone hoch. Oben hängen die Nüsse in ihren grünen Schalen. Vereinzelt springen sie schon auf. Ein Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Liebe durchflutet meinen Körper und ich schließe die Augen. Ich lausche den Geräuschen um mich herum: den vertrauten Stimmen meiner Familie und der fleißigen Lesehelfer, dem Rascheln der Blätter des Nussbaums im Wind, der lebhaft aufgefrischt hat und in der Ferne kann ich einen Traktor und das Zwitschern von Vögeln hören. Ich merke nicht, dass ich langsam einschlafe während die anderen schon längst wieder fleißig an der Arbeit sind, um alle Weintrauben von den Reben zu holen . . .
Das ohrenbetäubende Geräusch des Traktors und seiner Lesemaschine reißen mich aus meinen Gedanken und holen mich in die Gegenwart zurück. Es hat keine 15 Minuten gedauert und die ganze Lese ist vorbei. Der Traktor manövriert die Erntemaschine vor einen großen Anhänger eines zweiten Traktors, der auf der Futterwiese eines benachbarten Feldes steht. Nun können die Trauben abgeladen werden. Manuel ist schon vom Traktor geklettert und läuft auf die Straße vor dem Gummiwagen. Gespannt wartet er bis Traubenperlen und Traubensaft aus den beiden Behältern der großen Maschine auf den Anhänger geleert werden. Wenige Minuten später ist alles erledigt und der zweite Bauer, der im Traktor gewartet hat und mir jetzt erst auffällt, steigt aus, klettert am Hänger hoch und prüft den Zuckergehalt der Trauben mit einem kleinen Gerät in seiner Hand. Als er absteigt beginnt er mit uns zu plaudern. Er lässt Manuel und mich durch den Refraktometer schauen und dann steigt er auch schon wieder ein und bringt seine Trauben nach Hause, wo sie gepresst und der Traubensaft in Fässer gefüllt wird, damit er langsam zu Wein werden kann.
Wehmütig denke ich an den wunderschönen Tag in meiner Kindheit zurück, an dem die Trauben noch von Hand gelesen wurden und alles viel schöner war . . . und vielleicht geht es heute mehr Menschen wie mir und möglicherweise werden die Trauben irgendwann wieder, wie damals in der guten alten Zeit, von Hand gelesen, damit wir das unbeschreiblich Gefühl von einst in unsere moderne Welt zurück holen können . . . das Gefühl von Geborgenheit, Ruhe, Wärme – das ist Heimat! Das ist unser Österreich mit seinen Menschen und Traditionen . . .