75 Euro für ein Lächeln von dir!

Das schrille Piepsen meines Weckers unterbricht die Stille im Schlafzimmer. Ich drehe mich schlaftrunken auf die Seite. Das Licht vom Handydisplay ist angegangen und durchbricht als einziges Licht das Dunkel der Nacht. Es blendet meine noch nicht an so helles Licht gewöhnten Augen. Mit zusammengekniffenen Augenlidern greife ich nach dem unangenehm strahlenden Ding und drücke den Wecker weg. Ich lasse meinen Oberkörper mit einem lauten Stöhnen auf das Kissen zurück fallen. Ich bin noch schrecklich müde und völlig gerädert. Ich kann es nicht fassen, dass es schon kurz vor Fünf ist und ich tatsächlich schon aufstehen muss. Aber dann denke ich an den Nachbarn von oben. Ein Lächeln erscheint dabei unwillkürlich auf meinem Gesicht und plötzlich fällt mir das Aufstehen überhaupt nicht mehr schwer. Die Müdigkeit von vor ein paar Minuten ist wie weggeblasen. Ich bin hellwach und schlage die Bettdecke voller Vorfreude auf ein mögliches Zusammentreffen im Lift mit einem Ruck zur Seite. Ich springe aus dem Bett und summe gut gelaunt mein aktuelles Lieblingslied. Ich spüre ein Kribbeln in meinem Bauch, als ich wieder an den Nachbarn denke. Und ich muss ständig an in denken, wenn ich wach bin. Den ganzen Tag. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und ich versinke in Gedanken. Ich sehe sein Gesicht vor mir – seine blauen Augen, sein Lächeln   . . .


Ich könnte schreien vor Glück und doch ist da noch ein anderes Gefühl: die Angst, dass wir uns heute nicht sehen könnten, dass ich nicht rechtzeitig fertig werde oder er schon früher geht, als ich weg komme   . . .   eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Das Kribbeln in meinem Bauch wird stärker. Wir müssen uns einfach sehen – jeder Tag ohne ihn ist mittlerweile ein verlorener Tag für mich. Mir wird bewusst: Meine davor so graue und trostlose Welt ist wieder bunt geworden. Mit ihm sind die Farben wieder in mein Leben zurückgekehrt und sie leuchten so hell, wie nie zuvor. Und dabei hatte ich bis zu diesem Augenblick nicht einmal bemerkt, dass sie aus meinem Leben verschwunden waren. Völlig normal war dieses alltägliche Grau für mich geworden, das ich bis zu diesem Tag nicht ein Mal hinterfragt habe. Nicht ein einziges Mal! Bis er mein Welt wieder bunt gemacht hat – einfach nur dadurch, dass er da war – im Lift. Ich genieße jede Sekunde mit ihm, denn mehr Zeit ist es nicht, die ich mit ihm habe – jeden Morgen aufs Neue, wenn uns der Zufall oder die Bestimmung - keine Ahnung, was von beiden dafür auch immer verantwortlich ist - ein Zusammentreffen beschert. Die Lust am Leben – ich habe sie endlich wieder zurück. Die dunklen Wolken am Himmel sind verschwunden und die Sonne strahlt wieder für mich – erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr ich das vermisst habe und wie schön das Leben eigentlich sein kann. Ich fühle mich endlich wieder leicht wie eine Feder und mein Gewicht beginnt sich langsam aber doch diesem Gefühlszustand anzupassen.Aber noch esse ich viele Kohlenhydrate und so sind es nur wenige Kilos, bis erneut Stillstand auf der Waage eintritt.


Ich habe meinen Willen zum Abnehmen durch ihn zurück bekommen und esse bereits seit ein paar Wochen viel weniger als davor. Die ersten Kilos purzeln bereits von meinen Hüften – irgendwie ganz mühelos und leicht stelle ich überrascht fest. Mein Hungergefühl ist deutlich reduziert und ich staune selbst darüber. Noch bin ich aber davon überzeugt, dass sich das bald wieder ändern wird. Ich ahne zu diesem Zeitpunkt nicht, dass diesmal alles anders sein wird und ich mich in ein paar Monaten über unglaubliche 45 Kilo weniger auf der Waage und ein völlig neues Leben freuen werde können. Ich schiebe das Ganze auf die Schmetterlinge in meinem Bauch, die jetzt gerade am Beginn, unbestritten sicher auch einen wesentlichen Teil dazu beigetragen, mit dem Abnehmen wieder zu beginnen. Verliebt sein, macht es leichter, eine Diät zu beginnen und länger durchzuhalten und gegen den Hunger anzukämpfen. Aber das ist nur eine erste Hilfe am Anfang. Um erfolgreich und dauerhaft abzunehmen braucht es viel mehr. Warum esse ich jetzt, wo ich verliebt bin weniger und habe kaum Hunger? Es sind die Schmetterlinge in meinem Bauch! Sie machen schlank! Sie produzieren jetzt nicht nur appetitzügelnde Glücksgefühle, sondern von meinem Körper wird darüber hinaus auch ein Cocktail an guten Stresshormonen, Testosteron und Adrenalin ausgeschüttet. Allen voran: Serotonin und Dopamin. Diese Hormone werden auch beim Leistungssport freigesetzt. Hormone, die Appetit und Hungergefühle hemmen und dadurch schlank machen! Das Appetit- und das Sättigungszentrum im Hypothalamus sind die Schaltzentrale für Hunger- und Sättigungsgefühle. Botenstoffe wie Adrenalin, Serotonin und Dopamin regulieren den Appetit. Je mehr Serotonin zwischen den Nervenzellen agiert, desto kleiner ist der Hunger.


Mein Körper steht, weil ich frisch verliebt bin, jetzt ständig unter Stress. Das bedeutet Hochleistung! Der Stoffwechsel ist aktiviert. Ich stehe sprichwörtlich unter Strom, bin so gefordert, dass mein Kalorienverbrauch ansteigt und das Hormon Phenylethylamin (PEA) in größeren Mengen von meinem Körper produziert wird. Und PEA hemmt ebenfalls den Appetit! So kommt es, dass ich jetzt abnehmen kann, ohne es wirklich zu merken. Der menschliche Körper ist im Liebesrausch eine wahre Verbrennungsmaschine. Von dieser  “Liebes-Diät” bekomme ich selbst jetzt aber gar nicht viel mit. Denn meine Gedanken drehen sich die meiste Zeit um meinen Nachbarn! Ich habe ein Ziel: diesem Mann den Kopf zu verdrehen! Und: Ich will jetzt wirklich abnehmen, damit ich wieder so fesch und sexy wie früher werde und ihm gefalle. Und das motiviert mich ungemein! Aber das alleine ist es nicht, was es mir im Moment so leicht macht weniger zu essen. Doch davon werde ich selbst erst in einiger Zeit etwasw erfahren   . . .


Kurze Zeit später sind meine schlimmsten Ängste leider Realität geworden    . . .   Mit zittrigen Händen versuche in den Autoschlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Ich bin angespannt und habe es fürchterlich eilig. Und gerade jetzt, wo alles schnell gehen sollte, schaffe ich es nicht, das Auto rasch aufzusperren. Warum muss ich auch so eine alte Kiste fahren, die keine Zentralverriegelung hat, die man rasch mit einem Knopfdruck öffnen kann. Immer wieder rutscht der Schlüssel durch das Zittern meiner Hände beim Versuch ab ihn im schummrigen Licht in der Garage ins Schloss zu stecken, bevor ich es endlich schaffe und der Verriegelungsknopf sich im Inneren des Wagens hebt. Ich reiße die Autotür mit einem heftigen Ruck auf und zwänge mich in den Wagen. So schnell es geht starte ich das Auto und donnere von der Rampe. Während ich zur Ausfahrt rolle kurble ich gleichzeitig mit einer Hand hastig das Seitenfenster herunter. In strecke meinen linkenArm schnell durch den schmalen Spalt und versuche das Seil vom Toröffner zu ziehen. Doch es entgleitet mir und beginnt wild herum zu schwingen, wodurch ich das blöde Ding noch weniger zu fassen bekomme. `Mist, das gibt es ja nicht!´, fluche ich innerlich und ärgere mich über meine Ungeschicklichkeit bis ich das Seil endlich zwischen meinen Fingern spüre und daran ziehen kann. Mit einem lauten Geräusch höre ich, wie sich das Garagentor oben zu öffnen beginnt. So jetzt aber schnell die Ausfahrt rauf.


Der Nachbar ist heute schon etwas früher gegangen. Ich habe den Lift um ein paar Sekunden verpasst, aber vielleicht sehe ich ihn noch draußen auf der Straße. Ich muss mich beeilen. Oben beim Tor angekommen ist der Rollbalken erst bis zur Hälfte offen. Ungeduldig schaue ich ihm zu, wie er sich langsam weiter nach oben bewegt. Stück für Stück. Sekunden werden zu Ewigkeiten. Ich wetze ungeduldig auf dem Autositz hin und her. „Jetzt mach schon!“, rufe ich ungeduldig zum Tor. Doch der Rollbalken bewegt sich unbeeindruckt im gleichen Tempo langsam weiter. Endlich ist das Ding so weit offen, dass ich unter dem Rolltor durchfahren kann, ohne mit dem Auto stecken zu bleiben.


Ich gebe Gas. Der Motor heult auf. Vor dem Gehsteig halte ich kurz an und rolle langsam weiter. Mit großen bangenden Augen spähe ich um die Mauerecke auf die andere Straßenseite. Da steht sein Wagen noch etwas weiter stadteinwärts vom Haus entfernt, aber er hat die Lichter und den Blinker schon an und das Fahrzeug parkt bereits aus. Der Gehsteig ist frei, die Fahrbahn auch. Ich gebe Gas. Die Ampel vorne ist grün, blinkt aber bereits. Mit quietschenden Reifen schießt der Wagen auf die Straße und auf die Ampel zu, die gerade auf orange gesprungen ist. Ich bremse stark ab, damit ich die Kurve bekomme. Mittlerweile ist es Rot geworden. Egal, ich kann jetzt nicht stehen bleiben. Ich muss da noch drüber. Mit abermals quietschenden Reifen biege ich um die Kurve. Der Wagen neigt sich bedenklich zur Seite, fällt dann aber auf alle vier Reifen zurück und ich gebe wieder Gas.


Ich düse stadteinwärts hinter seinem Wagen her. Ein paar Gassen weiter ist eine Ampel rot und davor steht sein Auto. Ich fahre so schnell es geht und quietsche mich neben ihm ein. Ich schaue zu ihm rüber. Er dreht seinen Kopf in meine Richtung, bemerkt mich und da ist es: das Lächeln, das im Moment die Welt für mich bedeutet. Das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe. Ich bleibe daran hängen und vergesse alles um mich herum. Ich schaue zu ihm und erwidere sein Lächeln. Er winkt, zwinkert mir mit beiden Augen aufmunternd zu und schenkt mir nochmal sein schönstes Lächeln bevor sein Wagen anfährt. Ich bin versunken im Glück und sehe uns Hand in Hand über eine bunte Sonnenblumenwiese laufen. Ich kann die Sonne auf meiner Haut spüren, ich sehe den blauen Himmel und Schmetterlinge, ich rieche den Duft der Blüten und höre die Vögel zwitschern. Ein verärgertes Hupen und blinkende Lichter holen mich in die Realität zurück. Ich bemerke den Autofahrer hinter mir, der schon los fahren möchte und lege den ersten Gang ein.


Den Polizist, der an der anderen Hausecke stand, als ich bei Rot auf der Kreuzung umgedreht habe, habe ich nicht bemerkt. Von dem werde ich erst ein paar Wochen später erfahren – nämlich an dem Tag, an dem das Strafmandat in meiner Post sein wird   . . .