Ich sitze auf dem Boden im Wohnzimmer. Dicke Tränen laufen über meine Wangen. Ich schluchze vor Verzweiflung, Zorn und Wut auf mich selbst. Und ich frage mich schon zum hundertsten Mal: Wie konnte mir das passieren? Morgen ist Heiliger Abend . . . Wieso habe ich einfach vergessen etwas zu Essen einzukaufen? Und warum habe ich außer für meinen Sohn keine Geschenke? Für niemand?! Nicht einmal für meine Eltern und meine beste Freundin? Ich bin verzweifelt und völlig fertig. Es ist spät. Die Uhr im Wohnzimmer zeigt bereits 01:24 Uhr und ich bin todmüde. Ich sollte schlafen gehen, aber ich habe keine Kraft um aufzustehen. Wie gelähmt sitze ich da, unfähig mich zu bewegen. Alles um mich herum verschwimmt und ich fühle einen stechenden Schmerz in meinem Kopf. Es fühlt sich an, als würde sich eine dicke Eisenstange von oben durch meinen Schädel bohren. Ich schließe meine Augen und als ich sie wieder öffne, sehe ich Teile von dem, was ich anschaue, nicht mehr: ein Migräne-Anfall. Eine neuerliche Welle von Tränen schießt aus meinen Augen. Ich lasse mich auf die Seite auf den Boden fallen. Ich krümme mich zusammen. Mein Körper wird vom lauten Schluchzen geschüttelt. Mir geht es schlecht. Richtig schlecht. Ich schwitze, obwohl sich die Heizung bereits vor Stunden abgeschaltet hat und es kalt in der Wohnung geworden ist. Heiße Tränen laufen über meine roten Wangen und meine Nase rinnt. Meine Haare kleben an meinem Kopf. Ich bin so verzweifelt und zornig. Ich schlage mit meinem Kopf auf den harten Parkettboden – so oft und fest ich kann, bis ich blute. Und niemand ist da, der mir hilft. Niemand kommt und hält meinen Kopf fest, zieht mich hoch, trocknet meine Tränen und sagt mir, dass alles gut wird - zeigt mir einen Weg aus der völlig aussichtslosen Situation.
Ich liege noch eine Weile so da – ich weiß nicht wie lange - bevor ich die Kraft finde mich endlich aufzuraffen und mit großer Mühe aufzustehen. Es dauert eine Zeit lang, bis ich es schaffe und mich ins Badezimmer schleppe. Ich mache das Licht an und drehe den Wasserhahn auf. Kaltes Wasser fließt über meine Handgelenke und ich blicke hoch. Beim Anblick meines Gesichts im Spiegel erschrecke ich. Ich sehe entsetzlich aus: alt, abgekämpft, völlig fertig und das zerronnene und verwischte Augen-Makeup tut sein Übriges. Das Wasser ist mittlerweile heiß geworden, aber ich spüre es nicht. Ich sammle etwas davon in meinen Handflächen und wasche mir das Gesicht damit. Ich stütze mich mit beiden Händen am Waschbecken ab und schließe meine Augen. Das Wasser tropft von meinem Gesicht. Ich überlege verzweifelt, wie ich das mit den Geschenken und dem Essen lösen kann. Für die Freunde kaufe ich nach Weihnachten etwas, das ist nicht so schlimm. Nur für meine Eltern habe ich morgen wohl nichts, wenn mir nicht noch etwas einfällt. Lebensmittel kann ich morgen noch schnell kaufen fahren, wenn ich sehr früh aufstehe. Ich ziehe ein Handtuch von der Handtuchstange, trockne mein Gesicht und danach meine Hände. Ich merke nicht, dass sie durch das heiße Wasser rot geworden sind und brennen. Ich schaue erneut in den Spiegel und was ich da sehe, gefällt mir kein bisschen besser: Die Tränen und das verschmierte Makeup sind weg, aber meine Augen sind rot, die Augenlieder verschwollen, meine Nase und meine Lippen vom Weinen aufgequollen, an meiner Schläfe klebt Blut von einer hässlichen klaffenden Wunde und meine Haut ist aufgedunsen. Mir geht es nicht gut.
Schon seit Wochen kämpfe ich mit Schlafstörungen, häufigen Migräne-Attacken und fühle mich ausgebrannt. Ich bin alleinerziehende Mutter und mit meinem Leben völlig überfordert. Ich arbeite im Schnitt 50 Stunden pro Woche in einer Führungsposition im Personalbereich, was unglaublich fordernd ist, weil es Teil des Jobs ist, sich den ganzen Tag die Probleme und Befindlichkeiten anderer anzuhören, gute Ratschläge zu geben, Konflikte zu lösen und ein Team von 26 Mitarbeitern zu leiten. Das kostet Kraft – unheimlich viel Kraft. Ich fahre jeden Tag 48 Kilometer in die Arbeit und wieder zurück, stehe um 05:30 Uhr auf, verlassen zwischen 06:00 und 06:30 Uhr das Haus und komme gegen 19:00 und 19:30 Uhr wieder zurück. Freitag habe ich oft frei und ein langes Wochenende, aber da kann ich mich auch nicht erholen. Da warten schon all die Sachen auf mich, für die unter der Woche keine Zeit – besser gesagt: keine Kraft – mehr bleibt: der Einkauf, die Wäsche, Aufräumen, Putzen, Kochen und Lernen, Spielen, Basteln und etwas unternehmen mit Manuel, Rechnungen zahlen, die Gartenarbeit erledigen, etc. Das ist mir zu viel! Ich kann nicht mehr!
Manuel ist öfters krank. Wer steht auf, wenn er in der Nacht weint und es ihm nicht gut geht? Ich natürlich, wer sonst?! Wer ist dafür verantwortlich, dass immer etwas zu Essen zu Hause ist, schleppt die schweren Einkaufstaschen in den 4. Stock hinauf und räumt alles ein? Klar: ich! Wer trägt als einziger die Last das Familieneinkommen zu sichern und unser Leben zu finanzieren? Auch ich natürlich! Ich könnte diese Liste noch endlos fortsetzen . . . Tausend Sachen, die auf meinen Schultern wie ein schwerer Ambos lasten, der mir die Luft zum Atmen nimmt und mich langsam erdrückt. Jeden Tag ein bisschen mehr. Und ich habe nicht die Kraft das Ding zu packen, von meinen Schultern zu reißen und auf den Boden zu werfen. Ich schaffe es nicht, mich davon zu befreien.
Jetzt hat mein Körper wohl die Notbremse gezogen. Er hat die Gedanken an Einkauf und Geschenke für Familie und Freunde ausgeblendet. Ein Eigenschutzmechanismus – eigentlich zu meinem Wohl - der mich jetzt aber wie ein Blitzschlag trifft. Er führt mir vor Augen, dass ich überhaupt nicht perfekt bin und nichts mehr auf die Reihe kriege - gar nichts! Und das ist ganz besonders schlimm für mich. Ich bin ein Perfektionist und will alles immer perfekt machen: die perfekte Mutter, Hausfrau, Gastgeberin, Personalmanagerin und Führungskraft sein. Immer muss alles perfekt sein. Perfekt, perfekt, perfekt! Jetzt erkennen zu müssen, dass ich nirgends perfekt war, war eine Katastrophe für mich und lässt mich völlig verzweifeln. Ein neuer Schwall Tränen bricht aus mir heraus und mein Kinn beginnt zu beben. Ich merke nicht, dass ich laut schluchze.
Plötzlich reißt mich ein Geräusch aus dem Kinderzimmer gefolgt von einem leisen „Mama? Bist du wach?“ aus meiner Verzweiflung. Schnell wische ich mit meinen Händen die Tränen aus dem Gesicht, putze mir die Nase und gehe zu Manuel ins Kinderzimmer. Manuel setzt sich etwas auf und fragt mich mit zusammengekniffenen Augen: „Mama, geht es dir nicht gut? Bist du krank? Hast du geweint?“. „Nein, nein, alles OK. Mir geht es gut. Ich bin nur etwas traurig“, presse ich mit matter Stimme hervor und versuche fröhlich auszusehen. Ein gequältes Lächeln erscheint auf meinem Gesicht. Manuel schaut mich fragend an und sagt dann: „Aber Mami, du musst doch nicht traurig sein. Heute Nacht kommt doch das Christkind und bringt dir bestimmt auch ein ganz schönes Geschenk.“. Ich muss lächeln und antworte: „Ganz bestimmt! Du hast Recht.“. Ich gebe Manuel einen Kuss auf die Wange und sage zu ihm: „So, jetzt schlaf weiter!“, und denke mir `Wäre zu schön um wahr zu sein, wenn mir das Christkind ein Geschenk bringen würde wie 40 Kilo weniger auf der Waage . . ´, nicht ahnend, dass in dieser Nacht wohl wirklich ein kleines Wunder geschehen würde und irgendjemand ein ganz besonderes Geschenk für mich unter den Baum legen sollte - das schönste Geschenk der Welt für mich . . . nur finden werde ich es erst Monate später . . .
Manuel lässt seinen Kopf wieder nach hinten auf das Kissen fallen, murmelt noch: „Gute Nacht, schlaf gut Mami“, und ist im nächsten Moment auch schon wieder eingeschlafen. Ich streichle mit meiner Hand über seine Wange und flüstere: „Du auch! Ich hab dich lieb mein Schatz. . .“. Ich bleibe noch kurz an seinem Bett sitzen, bevor ich aufstehe und mit einem tiefen Seufzen aus seinem Zimmer in Richtung Schlafzimmer gehe. Ich muss funktionieren. Es geht gar nicht anders. Manuel braucht mich. Für ihn muss ich das alles schaffen. Für ihn muss ich stark sein. Nur wie???
Mir geht es gesundheitlich total schlecht. Ich kann in der Nacht nicht mehr durchschlafen. Ich nicke zwar irgendwann ein, wache dann aber jedes Mal gegen 02:00 oder 03:00 Uhr wieder auf. Mir gehen tausend Dinge durch den Kopf, die ich nicht vergessen darf und wälze mich bis der Wecker läutet schlaflos hin und her. In der Arbeit merkt niemand etwas davon, wie es mir wirklich geht. Mein Job verlangt äußerste Professionalität und vollen Einsatz von mir. Und lächeln und jederzeit ein offenes Ohr für jeden zu haben, ist Pflicht. Doch sobald ich ins Auto steige, verschwindet das Lächeln von einer Sekunde auf die andere aus meinem Gesicht und ich falle in mein tiefes schwarzes Loch zurück. Manchmal bin ich bei der Autofahrt irgendwo. Irgendwann komme ich dann wieder zu mir und stelle mit Entsetzen fest, dass ich keine Ahnung habe, wie ich bis hier her gekommen bin. Ich kann mich an nichts erinnern.
Auch meine Familie bekommt nichts mit. Ich lasse mir nichts anmerken - so gut es geht. Ich fühle mich oft wie in Trance. So viele soziale Kontakte ich bei meiner Arbeit habe, so wenige möchte ich in meiner Freizeit. Ich will niemand treffen und ziehe mich immer mehr zurück. Die meisten Freunde verstehen das nicht und wenden sich ab. Nur einige wenige sind mir geblieben und auch die will ich nicht sehen. Ein Treffen ist mir viel zu anstrengend – ich habe keine Kraft dafür, mich zu verstellen, zu lächeln und so zu tun, als würde es mir gut gehen. Das ist anstrengend – zu anstrengend für mich im Moment. Aber mich nicht verstellen und darüber reden, wie es mir wirklich geht, will ich auch nicht. Und ich geniere mich, weil ich immer dicker und dicker werde. Ich würde am liebsten gar nicht mehr raus gehen. Wäre Manuel nicht, würde ich das ganze Wochenende zu Hause bleiben und mich im Bett verkriechen. Zeit für mein Hobby, das Fotografieren, nehme ich mir schon lange nicht mehr. Und auch das Kochen habe ich längst aufgegeben. Stattdessen versuche ich meinem Perfektionismus gerecht zu werden und putze die Wohnung mit letzter Kraft auf Hochglanz. Die Fenster mal schmutzig sein lassen? Geht gar nicht für mich! Alles muss perfekt sein. Das ist nicht zu schaffen und treibt mich immer mehr auf einen steilen Abgrund zu – einen Abgrund namens Bourn-Out!
Ein Arzt, mit dem ich darüber spreche rät mir, ich soll eine Therapie machen, abnehmen und mit Sport beginnen! Ich kann darüber nur mit dem Kopf schütteln. Wie stellt er sich das vor? Wie soll das gehen? Ich bin doch jetzt schon total fertig und bringe die vielen Sachen, die ich alle erledigen muss, nicht mehr unter einen Hut. Wo sollte ich bitte die Zeit und vor allem die Kraft dafür noch her nehmen? Ich erkenne, dass ich etwas ändern muss, aber ich weiß nicht wie, bis sich eines Tages alles komplett ändern sollte . . . aber bis dahin würden noch Monate vergehen . . . und so setze ich mich um 02:18 Uhr an den Tisch und schreibe meinen Eltern und meiner besten Freundin einen Gutschein für ein gemeinsames Essen statt zu schlafen . . .